Dienst an Heiligabend in der Integrierten Leitstelle von Feuerwehr und Rettungsdienst
Stille Nacht?
Dienst an Heiligabend in der Integrierten Leitstelle von Feuerwehr und Rettungsdienst
Eine stille Nacht am 24. Dezember mit Stürzen, Schwächeanfällen, Herzinfarkt, Türöffnung, Besoffenen und einem schwer verletzten Kind verbrachten die Männer und eine Frau der Integrierten Leitstelle von Feuerwehr und Rettungsdienst des Bayerischen Roten Kreuzes. Von der Siemensstraße aus leiten die Disponenten Einsätze in Straubing und den Landkreisen Regen, Deggendorf und Straubing-Bogen. Im Leitstellengebiet wohnen über 345000 Menschen. Und einige brauchen heute Nacht Hilfe. Notrufe kommen in Wellen. Arbeitsreiche zehn Minuten wechseln mit ruhigen Viertelstunden. „Ein ganz normaler Tag.“
Hightech, Erfahrung aus dem „Sanka-Fahren“, geschultes Wissen, professionelles Mitgefühl und gesunder Menschenverstand – alles gestärkt mit selbst gekochten Spaghetti carbonara und Kuchen von der Mama – bringen die Menschen, die unter 112 erreichbar sind, durch die Heilige Nacht, „eine Nacht wie jede andere“, wie sie betonen. 95 399 Mal klingelte 2019 bis zu diesem Datum das Telefon in der ILS. Krankentransporte gab es 25 593. Die Notfallrettung kam 33 004 Mal zum Einsatz. Technische Hilfeleistung erfolgte in 3 522 Fällen im Einsatzgebiet.
Drei Augenpaare haben die Übersicht, der Schichtführer, der bewusst ganz hinten sitzt, um alles im Blick zu haben. Moralisch unterstützt wird er von ganz vorne – von den Maskottchen: Grisu der Feuerwehrdrache und ein Rettungsteddybär sind neben dem Christbaum der einzige persönliche Tupfer in der sonst technisch gehaltenen Leitstelle. Funker und Telefonisten für das Blaulicht aller Fahrzeuge der drei Landkreise haben rote Leuchten. Jeder eine an seinem Platz, die leuchtet, wenn er im Gespräch ist, damit er nicht gestört wird. Gerade hat eine Oma, die mit der Enkelin unterwegs ist, einen Schwächeanfall, der nächste Rettungswagen wird geschickt.
17 Uhr. Noch ist die Tagschicht am Werk. Schichtführer Martin Götz resümiert, dass heuer weniger Krankentransporte zwischen Krankenhäusern und Seniorenheimen anstanden. Für die ist man neben den Notrufen ebenfalls zuständig. Alle Disponenten haben einen Jahresschichtplan, aber an Weihnachten schaut man, dass es so ausgeht, dass die mit kleinen Kindern an Heiligabend daheim sind. Gleichzeitig gilt aber im Schichtdienst auch, das Mama oder Papa nicht immer abends daheim sein können. „Das kennen meine Kinder gar nicht anders, die sind damit aufgewachsen“, erklärt Götz.
„Rettungsrambos gibt es schon längst nicht mehr“, betont Götz. Lastet etwas auf der Seele – „das ist fast immer etwas mit Kindern“, stimmen alle überein – dann sucht man das Gespräch mit Kollegen. Professionalität und Einfühlungsvermögen in Menschen in Notsituationen wird intern mit „Rettungshumor“ gewürzt. Der ist im freundlichen Ton für den Kollegenkreis reserviert und wird ebenso schwarz eingeschenkt wie der Kaffee. Beides hilft, dass alles reibungslos abläuft.
Michael Graf ist erst seit drei Monaten dabei, aber routiniert nimmt er Notrufe an und erfragt von aufgeregten Menschen Details über Verunglückte. Zweimal darf er sich freuen, seine Eltern bringen dem 22-Jährigen und allen Kollegen einen Weihnachtskuchen vorbei und die beste Freundin liefert kurz ein Weihnachtsgeschenk ab. Bernd Schönbauer, der die Mittelschicht zwischen Tag und Nacht macht, ist heute für das Kochen eingeteilt. Seine leckeren Spaghetti carbonara werden, unterbrochen von Notrufen, einen Meter neben den Telefonen verspeist. Der Dritte der Nachtschicht unter Fischer, Julian Fabi, verabschiedet sich als erster in die Ruhezeit seiner Schicht. Lang wird er nicht schlafen.
Notrufe annehmen und abarbeiten sind nur ein Teil der Arbeit. Vorausschauend wird gearbeitet. Die Einsätze heute konzentrieren sich auf eine Ecke des ILS-Gebiets. Daher spricht sich Schichtführer Fischer mehrmals in der Nacht mit seinen Kollegen ab, welcher Rettungswagen von seinem Standort zu einem anderen abgezogen wird, damit überall in der Fläche immer Hilfe bereitsteht. Erfahrungswerte spielen da mit herein. Der Computer weiß viel und gibt Hinweise, zeigt per GPS, wo jedes Fahrzeug gerade fährt, der denkende Mensch hat aber noch mehr Variabeln im Kopf.
In der Straubinger Leitstelle, eine von 26 in Bayern, ist es üblich, dass man mit Erfahrung von der Straße kommt. Von den rund 30 Mitarbeitern fuhr jeder, der eine länger, der andere kürzer, im Rettungsdienst. „Dass es keinen Zivildienst mehr gibt, merkt man deutlich beim Nachwuchs.“ Viele bilden sich auch heute noch fort und übernehmen ehrenamtlich Schichten auf einem Rettungswagen. „Technik ändert sich und man hält den Kontakt zu den Kollegen und Einsätzen“, betont Andreas Fischer, der Schichtleiter bis 6 Uhr in der Früh.
Stress gibt es bei dieser Arbeit natürlich genügend. Aber die Kunst der Disponenten ist es, ruhig zu bleiben, wenn Menschen in ungewohnten plötzlichen Notsituationen anrufen. Keiner schimpft oder deutet Vorurteile an, obwohl nicht jeder Anruf ein „echter Hilferuf“ ist. Ähnlich wie bei Notaufnahmen merkt die ILS aber das geänderte Anspruchsverhalten von einem Teil der Anrufer. Weil „Dr. Google“ Symptome mit dem schlimmsten Fall gleichsetzt oder man nicht wie früher den Nachbarn bittet, einen zum Arzt zu fahren, wird die 112 der Rettungsleitstelle gerufen. Man ist aber immer für alle da, ein Grundsatz!
Randalierer – Patienten oder deren Freunde – stören, aber mit den Kollegen vom Polizeifunk ist man eng vernetzt. In der Zeit um Mitternacht wird dreimal eine Streife zu Hilfe für die Helfer gerufen.
Richtig still wird es in dieser Nacht, als der Notruf reinkommt, dass sich ein kleines Kind schwer verbrüht hat. Die Männer sagen nichts, schauen zu dem Kollegen, der den Einsatz bearbeitet. Alle wissen, was das bedeuten kann.
Anekdoten gibt es aber auch: Ein älterer Feuerwehrkommandant rief dreimal an und legte immer wieder auf, weil er beim Akzent des Disponenten meinte, er sei in Nürnberg rausgekommen. Das war kein dringender Anruf und ließ sich aufklären. Und: Ein Gitarrist eines wirklich sehr bekannten Weltstars, der bei Bluetone gespielt hatte, schlief unter der Bühne ein und erwachte in den Morgenstunden. Sein Problem: Keiner mehr da und wo ist hier das Hotel? Irgendwann rief er den Notruf, konnte auf Englisch aber nicht erklären, in welchem Hotel er muss. Sachte die Zeitungsausträgerin ansprechen und ihr das Handy geben, riet der Disponent. Auf Niederbayerisch war schnell erklärt, dass sie ein Taxi rufen soll, und der Fahrer wusste, in welchem Hotel der Star abgestiegen war.
Einen weiteren wichtigen Punkt im Rettungsdienst bringt Dr. Hubert Dippl ins Spiel, der sich sein NEF (Notarzteinsatzfahrzeug) für die Nacht abholt. „Das Wetter hält heute“ heißt in der Übersetzung: „Schaut nicht nach Unfällen aus.“ Trotzdem gibt es Arbeit für ihn, kaum auf dem Weg zu seinem heutigen Stellplatz, wird er angefunkt: Einsatz zu einem Treppensturz. Ein anderer Rettungswagen wird zurückgerufen: „Patient flüchtig!“ – hat was mit Alkohol zu tun.
Farben und Zahlen werden meist mitgefunkt. Die Zahl ist die Auftragsnummer. Schon am frühen Abend wird die 10 000er-Monatsmarke geknackt. Eher wenig, dafür dass schon der 24. ist, kommentiert der Schichtleiter. Man hat auch Monate mit Auftragsnummern bis 50 000. Großeinsätze mit Feuerwehr, THW, Wasserwacht katapultieren die Zahl in die Höhe: weil jedes Fahrzeug eine Nummer zugewiesen bekommt. Die Farben, die über den Digitalfunk hereinkommen sind Grün, Gelb und Rot – je nach Schwere der Verletzung des Patienten. Schwarz gibt es auch, „das erklärt sich von selbst“. Als Ausgleich zu ihrer Arbeit nennen fast alle neben der Familie Laufen oder Radlfahren als Hobby. Motorradfahren würde keiner machen, „zu oft werden die unschuldig zusammengefahren“.
Missbrauch von Notrufen kommt selten vor, und wenn, dann sind die oft nicht bös gemeint. Ein alter Mann ruft kurz vor Mitternacht an und wünscht „Frohe Weihnachten“. Man dankt und macht aber sofort wieder höflich die Leitung frei für echte Anrufer. Einsame Menschen, die einfach jemanden zum Reden brauchen, rufen schon mal an. Für diese Schmerzen der Seele ist die ILS aber nicht zuständig.
Die Zeit in den Morgenstunden kann lang werden. Man steht mal auf und läuft um sein Pult, trinkt Kaffee oder lüftet durch. „Die Zeit der Christbaumbrände ist mit LED-Beleuchtung und Rauchmeldern vorbei“. Nicht einmal ein Adventskranz brannte dieses Jahr – jedenfalls keiner mit Notrufeinsatz. Auf Silvester sind sie schon gespannt. Da wird immer etwas mehr Personal vorgehalten, wenn andere richtig feiern gehen. Das sei ein Tag, wo alles möglich sei von „tote Hose bis volles Programm“. Aber eigentlich gilt das für jeden Tag in der ILS. Und daher: Respekt für die Arbeit!
Quelle Text und Bilder: Straubinger Tagblatt 28.12.19 (Von Ulli Scharrer)